Am 25. September 2015 fand der A-TAG’15 statt. Dieser wird von accessible media seit 2006 veranstaltet und hat sich im deutschen Sprachraum inzwischen zur wesentlichen Veranstaltung im Themenspektrum barrierefreies Internet (Accessibility) entwickelt.
Es ist mir eine besondere Ehre meinen ersten Artikel hier auf diesem Blog über diese Veranstaltung zu schreiben. Einerseits, weil es diesmal meine erste Veranstaltung als Teammitglied von Zensations war und andererseits, weil ich seit den ersten Tagen von accessible media und somit der A-TAG-Veranstaltungen Teil ihrer Geschichte bin.
accessible media und der A-TAG
accessible media ist ein Zusammenschluss von Organisationen, Unternehmen sowie Einzelpersonen, die sich als Interessenvertretung für das Aktivitäts- und Geschäftsfeld “barrierefreie Medien” versteht und jährlich den A-TAG veranstaltet. Diese Organisation hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass wir heute in Österreich einen rechtlichen Rahmen für das barrierefreie Internet haben. Mit dem A-TAG will man dazu sorgen, dass dieses Thema weitere Verbreitung und Vernetzung erfährt sowie die Professionalisierung vorangetrieben wird. Auf A-TAG’15 wurde mit einem kleinen Rückblick auf das 10jährige Jubiläum von accessible media aufmerksam gemacht und allen in diesen Jahren beteiligten Personen, Organisationen, Kooperationspartnern und treuen Sponsoren gedankt, die accessible media in der mühsamen Aufbauarbeit unterstützt haben.
All Accessibility
Die diesjährige Veranstaltung stand diesmal unter dem schlichten Motto “All Accessibility”. Damit wollte man die thematische Vielfalt des Programms ausdrücken, welche erstmals in dieser Breite stattgefunden hat. So vielfältig das Thema ist, so vielfältig sind auch die Entwicklungen und Produkte, die es bereits gibt. Diesem Umstand wurde Rechnung getragen.
Besonders auffällig war diesmal einerseits, dass die Breite der barrierefreien Anwendungen und Einsatzmöglichkeiten immer mehr zunimmt – von Apps, Webprojekten, Frameworks für assistive Technologien bis hin zu speziellen Videolösungen in Gebärdensprache. Andererseits wurde auch klar, dass es viele Insellösungen gibt, welche nach einer neuen Sichtweise und einem größeren Verständnis ruft, damit das Potenzial von Accessibility allgemein begreifbarer wird. Diese zeigte sich unter anderem im Talk von Kerstin Probiesch, die praktisch aufzeigte, dass zB bei eCommerce-Websites wesentliche Informationen von bestimmten Usern gar nicht wahrgenommen werden können und somit unter diesen Umständen einen positiven Geschäftsabschluss verhindern.
Erweiterte Dimensionen von Accessibility
Wer sich mit dem Thema barrierefreies Web auseinandersetzt, wird früher oder später unweigerlich auf die Richtlinien der Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.0 stossen. In der praktischen Umsetzung werden diese überwiegend als Checkliste verstanden, ohne sich der echten Dimensionen bewusst zu sein. Da es in Österreich rechtlich so definiert ist, dass der internationale Standard automatisch rechtsverbindlich ist, ist das Verstehen der WCAG 2.0 eine Vorraussetzung. Allerdings macht es Sinn, sich bewusst zu sein, dass diese nur einen Mindeststandard sichern, aber nicht automatisch das Funktionieren in Praxis oder gar Innovationen garantieren. Damit ist gemeint, dass zB ein digitales Produkt in Form einer Website technisch barrierefrei ist, jedoch nicht die User erreicht, obwohl gewisse Angebote zwar existieren, jedoch bei den Usern kaum bekannt sind. Um dies zu verdeutlichen bin ich in der abschließenden Closing Note auf dieses Thema eingegangen, welche ich unten noch erläutern werde.
Evaluierung und W3C
Da in Österreich die 10-jährige Übergangszeit für Barrierefreiheit mit 31.12.2015 endet und damit mit 1.1.2016 eine neue rechtliche Realität eintritt, wird die Frage nach der Evaluierung bestehender Seiten eine besondere Herausforderung, die sich bereits in diesem Jahr bemerkbar gemacht hat. Mikael Snaprud (European Internet Inclusion Initiative) und Wolfram Huber (Webtech) haben in ihrem Vortrag dieses Thema für große Websites behandelt. Weil diese im eGovernment-Bereich oft aus tausenden von Seiten bestehen, macht es durchaus Sinn auf automatisierte Evaluierungstools zurückzugreifen, um besser erfassen oder überwachen zu können, allerdings ersetzt es das manuelle Testen anhand weniger beispielhafter Seiten nicht. Interessant war vor allem das Faktum, dass im europäischen Vergleich im Durchschnitt die Niederlande am Besten abschneidet, was die Barrierefreiheit von Webseiten der öffentlichen Hand betrifft.
Eric Eggert vom W3C, die Organisation, welche die weltweiten Webstandards definiert (darunter auch die WCAG 2.0) hat einen Überblick über die aktuellen Entwicklungen gezeigt. Unter anderem wurden einen Tag vor dem A-TAG’15 die neuen ATAG 2.0 Richtlinien veröffentlicht. Dieser neue Standard soll die Barrierefreiheit von Authoring Tools sicherstellen, um zB das Editieren von Webinhalten zugänglicher zu machen. Auch praktische Ressourcensammlungen wurden präsentiert, wie etwa die Web Accessibility Evaluation Tools List (http://www.w3.org/WAI/ER/tools/) oder Web Accessibility Tutorials (http://www.w3.org/WAI/tutorials/).
Status Quo
In meinem abschließenden Talk (Closing Note) habe ich versucht, meine Sichtweisen über die derzeitige Situation bzw. Lage des barrierefreien Internets zu erörtern.
SHOWSTOPPER SPRACHE
Ein erster Punkt war die Tatsache, dass wir ein Umdenken in der sprachlichen Vermittlung von Barrierefreiheit brauchen. Vor allem der Begriff “barrierearm” sollte nicht mehr verwendet werden. Denn dieser verleitet zu einer Nachlässigkeit, zu einem Qualitätsverlust und zu einer beschränkten Sichtweise von Accessibility. Deshalb sollte man nicht mehr aus der medizinischen Perspektive und damit nicht mehr einseitig auf etwaige Behinderungen von Menschen argumentieren, denn das schränkt den eigentlichen Kern von Barrierefreiheit ein. Das Potenzial ist viel größer, wenn wenn die Thematik aus der sozialen Perspektive heraus betrachtet.
“ZIELGRUPPENDENKEN” VS. WAHRNEHMUNGSVIELFALT
Damit kommen wir schon zum zweiten Punkt mit der Zielgruppenorientierung. Hier wollte ich aufzeigen, wie das klassische Zielgruppendenken sich auf die Accessibility auswirkt. Auch hier braucht es ein Umdenken, um von der medizinischen Perspektive auf eine soziale Sichtweise zu kommen. Denn man neigt zu sehr dazu, Menschen mit Behinderung als eine homogene Gruppe zu betrachten, welche in der Realität eigentlich nicht wirklich existiert. In Wahrheit haben wir es mit sozialen Netzen zu tun, die in ihren Wahrnehmungpräferenzen verschieden sind und dennoch miteinander interagieren (Wahrnehmungsvielfalt).
ACCESSIBILITY IST KEIN ADD-ON ODER AFTERHOUGHT
Im nächsten Punkt versuchte ich auf den Stellenwert von Accessibility in den Arbeitsabläufen aufmerksam zu machen. Es ist leider noch immer überwiegend die Regel das Thema Barrierefreiheit nachrangig (Afterthought) und als zusätzliche Erweiterung (Add-on), das im nachhinein implementiert wird, behandelt wird. Anders sieht es aus, wenn man Accessibility von Anfang an integriert, nämlich schon möglichst ab der Ideen- und Konzeptionsphase. Denn hier spart man viel Zeit, Kosten und nützt das Potenzial dieser Thematik besser aus. Vorraussetzung ist natürlich, dass man den Rahmen der Möglichkeiten für die Accessibility kennt und man sich ihrer Breite bewusst ist.
REDUKTION AUF TECHNISCHE ZUGÄNGE ERMÖGLICHT KEINE INKLUSION
Dies führte mich zu der nächsten Aussage, dass die Reduktion auf technische Zugänge keine Inklusion ermöglicht. Um dies zu illustrieren, erzählte hier mein Erlebnis, in der ich damals eine aktuelle Kunstausstellung mit einem Multimediaguide mit Gebärdensprache besuchen wollte. Um zu erfahren welche aktuellen Angebote es gibt, war der erste Anhaltspunkt die Suchmaschine. Ich wusste, dass es Angebote gibt, allerdings nicht, welche aktuellen es gab. Zu meiner Überraschung fand ich über die Suchmaschine keine brauchbaren Informationen, sondern nur Hinweise, dass es einen solchen Guide im Museum gibt. Aufgrund dieser Tatsache neugierig geworden, versuchte ich es direkt auf den Museumswebsites und selbst dort war es nicht einfach relevante Informationen zu erhalten, wenn auch oft nur umständlich. Erst eine damals aktuelle APA-OTS Presseaussendung machte mich zufällig auf ein aktuelles Angebot im Kunstforum der Bank Austria aufmerksam, welches ich sofort am selben Tag noch besuchte. Allein wegen dieser Tatsache wollte ich aufzeigen, welche Chancen hier liegen gelassen werden, obwohl es damals noch weitere Aha-Erlebnisse gab.
ACCESSIBILITY ALS ÖKOSYSTEM
Ausgehend von diesen Erlebnissen kam ich zum nächsten Statement, nämlich die Accessibility als ein Ökosystem zu begreifen. Hiermit will ich betonen, dass Accessibility erst durch ein Zusammenspiel von Schnittstellen, Abläufen, Inhalten, Informationen, realen Erlebnissen etc. lebendig wird. Damit wollte ich zeigen, dass es im Prinzip um ein Erlebnis geht. Worauf ich abschließend verdeutlichen wollte, dass man Accessibility als ein Nutzungserlebnis (User Experience – UX) denken soll. Um in der Fachsprache zu bleiben, habe ich das auf englisch als “Balanced UX – shared experience of the different” formuliert. Damit sei keineswegs gesagt worden, dass dies Barrierefreiheit ersetzen soll, sondern es in diesem Sinne weitergedacht werden sollte.
Come together
Der Ausklang jedes A-TAG bildet immer das Come together, ich kann es nicht genug betonen welche wunderbaren Gespräche es hier gibt. Die Vielfalt der Menschen, die hier miteinander in Kontakt treten, bildet sich auch in der Themenvielfalt ab. Selbst wenn manche Personen gehörlos sind, durch anwesende GebärdensprachdolmetscherInnen (welche auch den ganzen A-Tag in österreichischer Gebärdensprache übersetzen) werden Gespräche möglich, die für andere wiederum eine ziemliche Bereicherung sein können, genauso auch umgekehrt. Ich freue mich jetzt schon auf das nächste Mal auf dem A-TAG’16 – vielleicht auch mit euch!
Sämtliche Vorträge des A-TAG werden noch auf der A-TAG’15-Website in nächster Zeit zum Download bereitgestellt.
Links: http://atag.accessiblemedia.at http://www.accessiblemedia.at
Jo Spelbrink ist derzeit Vorsitzender von accessible media und als Developer mit dem Schwerpunkt Frontend und Accessibility ein Neuzugang bei Zensations. Er wird dabei auch mit seinem kritischen Blick die neue Website betreuen.
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