Vom 14. – 15. November 2015 fand zum zweiten Mal die Deaf IT statt. Diesmal ging es in Nürnberg über die Bühne. Bevor ich hier auf meinen eröffnenden Vortrag eingehe, gebe ich hier zunächst erst einmal einen Einblick über diesen Event und meine Eindrücke, die ich von dieser Veranstaltung mitgenommen habe.

Deaf IT

Die Deaf IT ist der Versuch mit einer Konferenz und dem dazugehörigen Rahmenprogramm die Vernetzung sowie den Erfahrungsaustausch in der gebärdensprachigen IT-Szene (Gehörlose, Schwerhörige und CI-Träger) im deutschen Sprachraum voranzutreiben.

Ich bin ohne irgendwelche Erwartungen mit drei Freunden nach Nürnberg erstmals zur Deaf IT gefahren und war neugierig, was dort auf mich zukommen wird. Rückblickend kann ich nur sagen, dass diese Veranstaltung einen besonderen Reiz hat und es für mich eigentlich ein gutes Beispiel für eine moderne Zielgruppenbetrachtung war, auf das ich schon hier in meinem letzten Artikel hinwies.

Wellenreiter, der mit Surfbrett in der Hand aufs Meer hinausblickt - Deaf IT Konferenz #event #deafit

Mehrsprachigkeit

Ich schrieb davon, dass man Zielgruppen nicht als statische und homogene Gruppe, sondern als reine Interessengruppe, trotz unterschiedlicher menschlicher und sozialer Natur, betrachten soll. Die Konferenzsprache war hauptsächlich die Gebärdensprache, dennoch gab es auch schwerhörige Personen, die ihre Talks in der Lautsprache abhielten. Um im Vergleich zur ersten Veranstaltung 2014 in München (nur Gebärdensprache) allen den gleichen Zugang zu ermöglichen, gab es im Prinzip drei sprachliche Wahrnehmungskanäle, nämlich die Gebärden-, Schrift und Lautsprache, und das alles so gut wie möglich simultan übersetzt.

Mehrwert durch die Themenvielfalt

Obwohl die Interessen sehr ähnlich gelagert sind, war die Themenvielfalt in der Breite doch ungewohnt. Diese Struktur ist insofern spannend, weil einerseits pro Ort vergleichsweise wenig Personen anzutreffen sind und sie jedoch geographisch weitmaschig vernetzt sind. Dazu kommen noch die fachlichen Unterschiede, welche dem Programm dann einen eigenen Reiz verlieh. Hier machte sich der Einfluss der sozialen und menschlichen Natur bemerkbar, die automatisch zu einer Vielfalt oder kreative Lösungen zwingt.

Der scheinbare Nachteil entpuppt sich in Wahrheit als Vorteil, denn man kriegt einen Blick über den eigenen Tellerrand hinaus und bekommt Inspirationen aus anderen Bereichen. Dazu gehören auch Zusammenhänge, die vorher nur theoretisch bekannt waren, und für mich dann praktisch nachvollziehbar waren.

Industrie 4.0

Hier sei der Vortrag von Dr. Irmhild Rogalla, der wissenschaftlichen Leiterin vom Institut für Praktische Interdisziplinarität in Berlin zu erwähnen, die uns einen gut aufbereiteten Einblick in das Themenspektrum “Industrie 4.0” gab. Dieses Thema war mir vorhin nur im Zusammenhang mit der “Aufweichung” der Netzneutralität durch die Entscheidung des EU-Parlaments bekannt. Dadurch wurde es für mich klarer, wieso dies eines der schlagenden Argumente bei dieser Debatte war. Gleichzeitig wurde mir bewusst, dass wir in der Netzdebatte generell einen vielfältigeren Blick brauchen, damit das Internet in seiner Entwicklung wirklich nachhaltig wird. Das ist jedoch ein anderes Thema, das eigentlich nichts mit der Deaf IT Konferenz und diesem Vortrag zu tun hat, jedoch aber eine Inspiration in mir auslöste. Hiermit will ich nur illustrieren, welchen Mehrwert eine solche Themenvielfalt liefern kann.

Earliest Adopter

Selbst praktische Zugänge kamen auf der Konferenz nicht zu kurz. Kilian Knörzer demonstrierte in seiner Hackingsession live Anwendungen für Virtual oder Augmented Reality, machte Internet of Things praktisch via Smartphone greifbar und zeigte Möglichkeiten der Gestensteuerung via Leap Motion, einem Bewegungscontroller, auf. Das ist immer wieder ganz toll anzusehen, obwohl es eigentlich inzwischen seit Jahrzehnten ein recht gewohntes Bild ist, dass gehörlose Menschen oft technologisch zu den Earliest Adopters von neuer Technologie gehören, weil sie recht schnell den praktischen Nutzen in ihrem Alltag erkennen. Man braucht nur zurück in die Mitte der 90er Jahre erinnern, als plötzlich jeder Gehörloser ein Handy hatte und sich Außenstehende fragten, was diese mit einem mobilen Telefon machen. Dabei hatten sie die SMS damals gerade für sich entdeckt.

Startup-Erfahrungen

Über die Erfahrung in Praxis referierte Fabian Spillner, Senior Software Engineer von gutefrage.net GmbH in München. Er gab einen Einblick in die modernen Arbeitsabläufe und die dabei verwendeten Technologien und Methoden, um erfolgreiche Webprodukte zu entwickeln. Wobei er ganz klar die Vor- und Nachteile aufzeigte. Er gab unter anderem praktische Tipps, welche Webhostinganbieter sich für bestimmte Größenordnungen eignen. Dabei ging er auf die Datenschutzproblematik bei amerikanischen Hostinganbietern ein und zeigte eine deutsche Alternative auf (strato.de).

Sharepoint und Open Source

Gleich zwei Vorträge zu gab es zu Sharepoint – einer Business Web Application Platform von Microsoft. Vicent Rothländer von CGI in Frankfurt/Main zeigte, dass Office 365 – Sharepoint online ein Tool für Zusammenarbeit in der Cloud ist und mit selbst entwickelten oder gekauften Add-ins erweitert werden kann. Amüsant war dabei, daß unter anderem Open Source Software zum Einsatz kommt (zB Yeoman, Node.js). Es war für mich ganz deutlich zu sehen, wie sehr sich das Businessmodell bei Microsoft geändert hat. DI (FH) Florian Katzmayr von der IMC FH Krems führte uns in die Three Layer Architektur in C# .NET in der Anwendung von MS Sharepoint ein. Er erläuterte dabei die Sinnhaftigkeit dieser Architektur und demonstrierte es dann gleich praktisch.

Verlinkte FM-Anlagen

Phonak war einer der Sponsoren dieser Veranstaltung und mit einem eigenen Vortrag über FM-Technologien sowie Geräte für Schwerhörige im Arbeits- und Berufsalltag im Programm vertreten. Was zunächst ein wenig als ein für die Konferenz abweichendes Thema klang, entpuppte stellte sich dann dennoch als relevant heraus. Selbst bei FM-Geräten hat das Plug-and-Play-Prinzip Einzug gehalten und es gibt eigene Apps für das Smartphone dazu.

Spielentwicklung mit Unity3D

Das Thema Spieleentwicklung bildete den Abschluß des ersten Tages. Es wurde ein Überblick gegeben, wie Spiele modular aufgebaut werden können, indem man bereits vorhandene Assets verwendet, die im Assets Store frei verwendet oder gekauft werden können. Am Ende dieses Vortrag kam es zu einer interessanten Diskussion, wie man die Spieleentwicklung für Lernprogramme in Gebärdensprache nutzen und wie in etwa die Arbeitsabläufe in einem Projekt mit verschiedenen Partnern aussehen könnte. Im Prinzip ist das eigentlich selbstverständlich, jedoch ging es hier speziell um das Sicherstellen der Qualität, vor allem in Hinblick mit den 3D-Technologien.

SiMAX Gebärdensprachavatar

Der letzte Vortrag am Sonntag handelte um den Gebärdensprachavatar SiMAX von SignTime GmbH in Wien. Claudia Schweinzer zeigte uns, wie das Projekt entstanden, wie dieser Avatar technologisch aufgebaut ist, wie die Arbeitsabläufe in der Umsetzung von solchen Avatar-Videos aussehen und welche möglichen Einsatzmöglichkeiten es gibt. Sie wurde nicht müde zu betonen, dass man noch in der Entwicklung befindet. Im Prinzip ist es eine eigene Softwareumgebung mit einer riesigen Datenbank, wo man wie bei einem Übersetzungsprogramm Texte eingeben kann und dann der Videooutput von einem Instrukteur sinnvoll ein- und zusammengestellt wird.

Für mich persönlich gibt es bei Gebärdensprachavataren technologisch unterschiedliche Herangehensweisen, die man unterscheiden sollte. Eine davon ist ähnlich wie in der Filmproduktion, wo eine echte gebärdende Person mit Markern versehen wird und seine komplette Bewegungsausführung samt Mimik auf eine eine 3D-Figur übertragen wird (Motion Caption). Die qualitativen Unterschiede von SiMAX zur Motion-Caption-Technologie sind momentan noch sehr groß (Flüssigkeit in der Bewegung, im Ausdruck der Mimik und in der linguistischen Korrektheit), dennoch gibt es berechtigte Einsatzmöglichkeiten (zB Echtzeitinformation in Gebärdensprache im Katastrophenfall).

User Experience als digitales Wellenreiten

Nun komme ich zu meinem Eröffnungstalk über die User Experience als digitales Wellenreiten, auf welches ich hier etwas ausführlicher eingehen werde. Ich war immer schon vom Wellenreiten fasziniert, als ich als 12jähriger es erstmals im Film “Northshore” sah und das letzte Mal bei “Mavericks – Lebe deinen Traum” über das Leben der Surferlegende Jay Moriarity. Ich kam selbst noch nie zum Wellenreiten. Höchstens einmal konnte ich das Erlebnis in etwa nachempfinden, als ich einst auf der Venice Beach in Santa Monica in Kalifornien mich körperlich steif machte und mich von einer Welle an den Strand spülen ließ.

UX als digitales Wellenreiten from Zensations Web & Communications

SURFEN BIS ZUR MEISTERSCHAFT

Ich glaube, dass jeder, der einmal ernsthaft mit dem Surfen auf Wellen beginnt, von einer gewissen Faszination getrieben ist. Der Film “Mavericks” zeigt ganz gut, wie aus einem Kind ein Profi-Surfer und letztlich eine Legende wird. Man versucht zu lernen, auf einem Brett im Wasser zu stehen und fällt dabei immer wieder ins Wasser. Die Versuche werden so lang probiert bis man eine Balance gefunden hat und eine irrsinnige Freude verspürt. Gleichzeitig probiert man neue Möglichkeiten und neue Herausforderungen aus. Dabei verschieben sie die Grenzen mit der Zeit immer mehr hinaus, sodass man immer waghalsiger wird. Auf diese Weise gelangt man letztlich zur Meisterschaft.

WELLENREITEN ALS NATÜRLICHES LERNEN

Dieses Beispiel mit dem Wellenreiten ist eine ganz gute Metapher für das natürliche Lernen. So lernen wir alle im Leben unsere Leidenschaften und das was wir gut können. So beginnen Karrieren von Designern und Web- sowie Software-Entwicklern. Genauso auf diese Art lernen Kinder das Gehen, oder eben User das Anwenden von Software auf Computern und Smartphones oder das Navigieren und Nutzen von Websites und -anwendungen.

DAS MEER ALS DYNAMISCHE UMWELT

Es gibt eine zweite Metapher, die da ganz gut dazu passt, nämlich das Meer. Es zeigt sich ganz unterschiedlich, es kann ruhig sein oder es kann durch das Wetter enorme Wellen produzieren. Auf jeden Fall ist es eine ganz dynamische Umgebung ähnlich wie das Leben mit allen Höhen und Tiefen oder das Internet mit seiner dynamischen Entwicklung.

DER AUF DER SUCHE NACH DER BALANCE

Beim natürlichen Lernen als User streben wir nach einer Balance, aus welcher fließend Gewohnheiten entstehen. Gleichzeitig suchen wir nach neuen Reizen und stellen immer höhere Anforderungen an die User Experience in einem immer dynamischeren digitalen Umwelt.

UX-HÖLLE FAHRKARTENAUTOMAT

Nun machen wir einen von mir bewusst gewählten Abstecher zu Fahrkartenautomaten, wie es sie etwa bei der Bahn gibt. Wenn man sich damit beschäftigt und sie kennt, dann merkt man schnell, wie wenig intuitiv es sich plötzlich anfühlt, irgendwie wie ein Gegensatz. Eine User Experience, die unnötig stark zu Fehlern provoziert und den User die Bedienung mehrfach ausführen lässt, bis man endlich seine Fahrkarten in der Hand hat. Ich bezeichnete es bewusst überspitzt als “nerv- und zeitötende Frustrationsmaschine” oder gar “User Experience (UX) Hölle). Denn es fühlt sich einfach alles andere als balanciert und einfach an.

UX UND ACCESSIBILITY

Das vorhin genannte Extrembeispiel einer User Experience zeigt, worauf es wirklich ankommt. Nämlich wie beim Surfen geht es um eine ausgewogene Balance, die spürbar ist. Gute UX ist ausgewogen und hat auch eine gute Usability. Das bedeutet nichts anderes, dass man intuitiv erahnt, wo ich drücken oder klicken muss. Zwischen dem Gerät und dem User steht eine ausgewogene Balance. Und für eine gute Usability ist die Accessibility ein wesentlicher Teil, den man nicht einfach wegreduzieren kann. Wer das doch tut, der weiß nicht, was das wirklich ist und hat sich damit nie ernsthaft beschäftigt.

Denn eine gute User Experience ist nichts anderes als eine Balance für alle User, sie ist für alle funktional und ebenso ansprechend. Wer das nicht beherzigt, der stirbt sprichwörtlich in Schönheit.

GUTE UX ALS EWIGE HERAUSFORDERUNG

Anschließend habe ich meinen Talk noch einen praktischen Zugang gewählt, und das Publikum gefragt, ob sie iTunes am Desktop kennen und schon einmal einen Film mit Untertitel angeschaut haben? Denn Apple ist unter den Betriebssystemen für eine funktionierende, gute User Experience und Accessibility bekannt. Dennoch habe ich versucht, dem Publikum zu demonstrieren, dass selbst Apple es nicht immer gelingt, eine gute UX zu gewährleisten, sie bleibt und ist eine ständige Herausforderung. Nachdem einige Leute aufzeigten, fragte ich sie, wie sie die Filme mit UT in iTunes finden. Einer zeigte auf und diesen bat ich bat auf die Bühne, um zu zeigen, wie er auf das kommt. Die Antwort war recht typisch für einen Entwickler, nämlich die Möglichkeiten technisch zu erklären und jeden Film durchzuklicken, bis man einen mit UT gefunden hat.

Ich erklärte dann, dass es eine Möglichkeit wäre, jedoch aber auch umständlich und zeitaufwändig ist. Daraufhin zeigte ich eine andere die Möglichkeit, indem ich in die Suche den Begriff “Untertitel” eingab. Ich bekam darauf eine erste Liste mit neuen Optionen in der Seitenleiste. Dort wählte ich die Option “Filme” und bekam die komplette Filmliste mit UT angezeigt.

Doch das war noch lange nicht alles. Ich erzählte, dass ich kürzlich einen Film gefunden habe, der nicht auf dieser Liste war, und dennoch UT hatte. Ich fand ihn genauso wie diese Person aus dem Publikum, nämlich eher zufällig. Es ist denkbar, dass dieser Film nicht im Suchindex ist. Trotzdem war es ein gutes Beispiel, um bewusst zu machen, was Accessibility in seinem Kern eigentlich ist und wieso sie Teil der Usability ist und damit die generelle User Experience verbessern hilft.

ES GEHT IMMER UM DIE BALANCE

Bei den abschließenden Fragen aus dem Publikum fragte einer, wie kann man eine gute User Experience für verschiedene Zielgruppen gleichzeitig gewährleisten? Eine wahrlich gut gestellte Frage. Meine Antwort, die ich gegeben habe, war eine allgemeingültige. Wenn man den Kern von Accessibility versteht und die vielfältige Natur der Menschen in ihren unterschiedlichsten Ausdrücken kennt, dann weiß man auch, was zu tun ist. Es geht immer darum eine Balance herzustellen und die ist von Projekt zu Projekt verschieden.

Links: http://www.deafit.org/ http://de.slideshare.net/Zensations/ux-als-digitales-wellenreiten