Die vermehrte Berichterstattung in den österreichischen Medien zum Thema Barrierefreiheit (Accessibility) rund um den Jahreswechsel und die Art und Weise, wie es hauptsächlich interpretiert wurde, hat mich dazu bewogen, mir ein paar Gedanken darüber zu machen. Denn nicht alle kolportierten Fakten entsprechen den realen Tatsachen oder sind im Zusammenhang einseitig oder nicht ganz richtig dargestellt worden.

Ganz besonders hängengeblieben ist bei mir die Aussage von einem hochrangigen Vertreter der Wirtschaftskammer (WKO), der meinte, dass es “der Wirtschaft nicht klar sei”, was Barrierefreiheit sei, nämlich wo sie anfängt und wo sie aufhört. Es liegt mir fern, diese Aussage zu kommentieren oder zu erwidern. Ich nehme es einfach als Inspiration für diesen Artikel.

10-Jahres-Rückblick

Bevor ich hier näher darauf eingehe, gehen wir zunächst kurz einmal zehn Jahre zurück. Am 1. 1. 2006 trat in Österreich das Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft, dessen Regelungen die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung verbessern sollte. Dabei wurde für bauliche Maßnahmen eine 10-jährige Übergangsfrist festgelegt, welche mit 1. 1. 2016 endete und auch der eigentliche Grund für diese aktuelle Berichterstattung ist. Damit markiert der Jahresbeginn 2016 eine kleine Zeitenwende, wo man gut beraten ist, eine gesamtheitliche Strategie im Umgang mit Barrierefreieheit zu verfolgen.

Querschnittsmaterie Barrierefreiheit

Es ist verständlich, dass aufgrund dieser Gegebenheiten allgemein eine gewisse Unklarheit herrscht, besonders dann, wenn man bisher kaum oder wenig damit zu tun hatte. Denn die Sachlage ist konservativ betrachtet auf den ersten Blick komplex und umfasst eine Querschnittsmaterie, die man nicht sofort durchblickt. Jedoch kann man es herunterbrechen, um es verständlicher zu machen.

Accessibility

Der englische Begriff für Barrierefreiheit umschreibt in seiner Wortbedeutung etwas ganz wesentliches, nämlich das ermöglichen von Zugängen, um generell eine gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen: Accessibility. Und das bedeutet nichts weniger als das Sicherstellen eines Mindestmaßes an Komfort, sodass jeder Mensch selbständig und unabhängig mit der Umgebung interagieren, sich bewegen, sowie Leistungen oder Dienstleistungen in Anspruch nehmen kann, ohne auf gröbere Schwierigkeiten zu stoßen.

Gewohnte Einstellung hinterfragen

Sehr hinderlich im Verstehen dieser Materie ist die Tatsache, dass der Fokus auf Barrierefreiheit meist nur auf Menschen mit Behinderung reduziert wird und der Großteil der Menschen sich selbst davon ausnimmt (und dabei vergisst, dass selbst seine eigene Natur nicht vor Veränderungen gefeit ist). Das bedeutet, man fühlt sich gar nicht angesprochen und nimmt es nicht weiter ernst. Und genau dort beginnen die eigentlichen Probleme bei der ganzen Debatte, die konzeptionelle Folgen mit sich bringen und eigentlich den Kern dessen ausmachen, was sich allgemein in einer medialen Erregung niederschlägt.

Sinn von Accessibility

Es geht dabei unter, worum es eigentlich wirklich geht: Ein Mindestkomfort, der dazu noch möglichst barrierefrei ist. Und dieser Komfort ist nichts weniger als eine gewisse Balance, der sich erst in einem Kontext einer gewissen Umgebung (räumlich, digital oder auch kommunikativ) bildet, wobei die Gegebenheiten stets andere sind und man nie in einem fixem Schema denken sollte. Das bedeutet, man hat im Rahmen der Möglichkeiten sehr wohl einen Gestaltungsspielraum. Nur wird das nicht sofort gesehen. Denn es heißt sehr schnell, dass es nicht möglich sei. Die Wahrheit ist, dass dahinter oft aufgrund von Gewohnheiten die eigene Unzulänglichkeit, diese Thematik zu verstehen, zutage tritt. Denn oft trennt man Dinge, die zusammengehören und miteinander erst ein gewisses Erlebnis (User- Customer- und Stakeholder-Experience) ausmachen, deren Basis dieser Komfort ist. Detaillierte Ausführungen und wie Accessibility, UX und Usability dabei in Zusammenhang Kontext stehen habe ich in diesem Beitrag bereits erläutert.

Märkte sind Gespräche

In der Marketingsprache spricht man von der sogenannten Lead-Generierung, was nichts anderes bedeutet, als Interessenten zu gewinnen und zu potentiellen Kunden zu machen. Genau in diesem Sinne ist das Einbeziehen von Maßnahmen zur Barrierefreiheit zu sehen. Damit sind wir schon wieder bei der Wirtschaft. Es wird viel Geld für Maßnahmen ausgeben, um sich selbst bekannter zu machen oder um dem Kunden Qualität zu bieten. Doch Barrierefreiheit wird dabei oft nicht mitbedacht. Und das alles nur deswegen – wie hier oben schon erwähnt -, weil man den Fokus auf eine bestimmte und gesellschaftlich vermeintlich homogene Gruppe von Menschen reduziert und dabei völlig vergisst, wie vielfältig und bunt die menschliche Natur ist. Es geht nicht nur darum, dass ein Rollstuhlfahrer ins Geschäft kann, sondern gleichzeitig auch dass eine Mutter mit einem Kinderwagen einen gewissen Komfort hat. Ähnlich ist das auch im Web, es geht um das Gestalten von Zugängen, sodass Gespräche und Interaktionen möglich sind, denn Märkte sind nichts anderes.

Brücken- bzw. Schnittstellenfunktion

Es ist ein Kardinalfehler, Menschen mit Behinderung als eine homogene Zielgruppe zu betrachten. Denn sie sind genauso divers wie die Gesellschaft insgesamt. Und alle Maßnahmen für Barrierefreiheit sind Brücken bzw. Schnittstellen, welche künstlich getrenntes wieder zusammenbringt. Das können auch Familien sein, wo die Oma im Rollstuhl sitzt, ein Kind gehörlos ist und sie gemeinsam einkaufen gehen. Und was allen damit gemein ist, sie miteinander etwas erleben und dabei auch gleichzeitig selbstständig agieren. Damit das möglich ist, braucht es einen gewissen Rahmen, den man gestalten kann. Und wenn dieser nicht vorhanden ist, dann stellt das natürlich eine Investitionsfrage dar. Und wer nicht in sich investiert, den verschlingt irgendwann der Markt. Die Wirtschaft braucht faire Wettbewerbsbedingungen, das ist keine Frage. Jedoch steht sie sich selbst im Weg, wenn sie es nicht als Chance begreift, Qualität zu verbessern.

Chancen für Unternehmen

Natürlich gibt es auch Situationen, in denen die Herausforderung für die Wirtschaft eine enorme ist. Trotzdem kann man nicht sofort alles in Frage stellen. Wer das tut, stellt sich in Wahrheit selbst in Frage und Menschen mit Behinderung sowie die Barrierefreiheit sind dafür nichts anderes als eine Projektionsfläche. Es spricht viel dafür, dass man hier sachlich bleibt und man die Möglichkeiten anschaut und darauf aufbaut. Jedes Projekt ist eine Chance und wie wir das bewerkstelligen ist immer eine individuelle Geschichte. Durch Erfahrungen entwickelt sich die Gesellschaft und auch die Wirtschaft, denn sie sind der Nährboden für Innovationen.

Apple als Vorreiter

Dass dies funktioniert, beweist in der digitalen Welt Apple. Die wenigsten wissen, dass in den Geräten, die sie kaufen, auch Barrierefreiheit inkludiert ist, selbst wenn bestimmte Dinge gar nicht benötigt werden. Aber man schafft damit ein funktionierendes digitales Ökosystem, das möglichst alle Menschen nutzen können. Es ist inzwischen unbestritten, welchen Beitrag dieser Ansatz in der Welt liefert. Barrierefreiheit erhöht die generelle User Experience und sorgt für eine bessere Durchgängigkeit im digitalen Ökosystem. Dennoch ist hier noch anzumerken, dass es noch genug zu tun gibt. Apps oder digitale Produkte von Drittanbietern sind noch nicht überwiegend zugänglich für jeden, selbst das Web ist ist davon nicht ausgenommen. Doch es wird immer mehr! Die Welt wird es durch ihre Vieltfalt danken, die in Innovationen münden, die wir uns jetzt noch gar nicht ausdenken können.